Sie löst auf sanfte Art Blockaden und bringt Körper und Seele ins Lot.
Text: Verena Stein
Es klingt im ersten Moment fast wie Zauberei: Bei einer Patientin verschwinden nach sanftem Druck auf die Leber schmerzhafte Ellenbogenprobleme. Eine andere wird durch Fußmassagen ihre chronischen Rückenschmerzen los. Und ein aggressiver Junge avanciert zum ausgeglichenen Kindergartenliebling, nachdem bei ihm blockierte Nerven im Nacken gelöst wurden. Doch dahinter steckt nicht Magie, sondern inzwischen rund 120 Jahre alte Therapie: die Osteopathie, die von dem Amerikaner Andrew Taylor Still entwickelt wurde. Der Arzt ging davon aus, dass der Organismus als ganzheitliches System konzipiert ist, bei dem Körper, Geist und Seele miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. "Deshalb können Beschwerden eines einzelnen Organs leicht den ganzen Körper aus der Balance bringen", erklärt Dr. Siegbert Tempelhof, Orthopäde, Osteopath und Leiter des Augsburger Revital-Therapiezentrums. "Der Organismus funktioniert nur gut, solange Knochen-, Muskel- und Gewebeketten von Kopf bis Fuß zusammenspielen." Wie bei allen Therapien, zu denen auch die Osteopathie zählt, erfühlen Experten allein mit den Händen, ob und wo eine Dysbalance ist. Beim ersten Behandlungstermin werden erst einmal die Gewohnheiten und vergangenen Krankheiten des Patienten erfragt. Dann werden Körperhaltung und Gang analysiert und etwaige Fehlstellungen ausgemacht, danach Rückgrat, Hüfte, Beine und Gelenke auf ihre Beweglichkeit hin untersucht. Die Art der Bewegungseinschränkung lässt wiederum Rückschlüsse auf die Schmerzursache zu. Behandelt wird anschließend mit unterschiedlichen Dehn-, Beuge- und Drehbewegungen, die je nach betroffener Körperpartie und erstellter Diagnose variieren. Beim manuellen "Durchforsten" von Kopf bis Fuß geht es darum, Verspannungen und Blockaden so zu lösen, dass der Flüssigkeitsaustausch (Nähr- und Sauerstofftransport zu den Organen sowie Abtransport der Schlackenstoffe) reaktiviert wird, weil das den Selbstheilungsprozess anregt. Üblich ist eine zwei- bis dreiwöchige Pause zwischen den einzelnen Behandlungen, um dem Körper Zeit zu lassen, auf die gesetzten Impulse zu reagieren. Die Dauer einer Therapie ist ganz unterschiedlich. Als Faustregel gilt: je chronischer ein Zustand, desto langwieriger die Behandlung.
Im Vergleich zu Amerika und Frankreich ist die Osteopathie in Deutschland noch relativ unbekannt - doch sehr auf dem Vormarsch. Denn die Stärke der Methode zeigt sich insbesondere dort, wo herkömmliche Diagnoseverfahren nicht ausreichen, um diffuse Befindlichkeitsstörungen und chronische Erkrankungen zu erfassen. Mit großem Erfolg werden vor allem Rückenleiden, Kieferfehlstellungen, Verrenkungen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Verdauungsprobleme und Menstruationsbeschwerden behandelt. Viele Krankheiten manifestieren sich auch erst deshalb, weil der Körper versucht, Blockaden und Verletzungen durch entsprechende Anpassungen selbständig auszugleichen. Wird hier nicht rechtzeitig gegengearbeitet, werden die Beschwerden schnell chronisch.
Nicht immer ist da, wo es wehtut, auch die Störquelle. "Schulmediziner und Physiotherapeuten behandeln zum Beispiel bei Knieschmerzen in der Regel nur das Knie", erklärt Dr. Tempelhof. "Der Osteopath zunächst auch, aber darüber hinaus versucht er, eventuelle Blockaden in anderen Organen wie der Niere, die durch einen Bindegewebsstrang mit dem Knie verbunden ist, zu lösen und somit dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich selbst wieder einzuregulieren." Oder nehmen wir den Magen-Darm-Trakt: Dieser ist an der hinteren Bauchwand befestigt und mit der Wirbelsäule durch etliche Gewebestränge verbunden. Viele Verdauungsstörungen lassen sich beheben, indem man eventuelle Spannungen in diesem Gewebebereich löst. Oft genügt schon ein kleiner Reiz von außen - das Dehnen einer Muskelpartie, was die Durchblutung anregt -, um den Prozess wieder in Gang zu setzen. Für den Osteopathen steht im Unterschied zum schulmedizinischen Ansatz also nicht das Symptom im Vordergrund, sondern die zugrunde liegende Störung.
Als eigenständiger Therapiebereich hat sich inzwischen die Craniale Osteopathie herausgebildet - ein spezielles Verfahren zur Behandlung der Schädelknochen. In zahlreichen Untersuchungen war nämlich festgestellt worden, dass schwere mentale und physische Effekte ausgelöst werden können, wenn der Schädel gepresst wird (z.B. bei einem Unfall). Hyperaktivität und Essstörungen bei Kindern sowie Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Ohrensausen sind nur einige der möglichen Folgen. Mit leichten Griffen und oft kaum spürbaren Berührungen an Kopf und Kreuzbein ist ein spezialisierter Osteopath in der Lage, mögliche Kompressionen oder Verzerrungen der Schädelknochen zu lösen. Besonders erfolgreich ist der osteopathische Ansatz bei Kindern.