Heilende Hände: Babys mit einem schiefen Hals hilft eine spezielle Gymnastik
Kinderärzte stellen immer häufiger einen SCHIEFEN HALS bei Säuglingen fest. Über Ursache und Therapie gehen die Ansichten von Medizinern auseinander.
Als Marie mit ihrem vier Wochen alten Baby zur Vorsorgeuntersuchung ging, hatte sie bereits ein mulmiges Gefühl. Ihre Anna dreht den Kopf in Rückenlage immer nur auf eine Seite, außerdem wirkte sie sehr angespannt, so als ob sie gar nicht richtig lockerlassen könne, fand Marie. Bei der Untersuchung diagnostizierte die Kinderärztin einen Schiefhals.
Das bedeutet: Babys Kopf ist leicht verformt, die Haltung gekrümmt. Bei Neugeborenen und Kleinkindern in den ersten Lebensmonaten treten diese Probleme relativ häufig auf. Kinderärzte sprechen dabei auch von „Symmetriestörung“ oder „Säuglings-Asymmetrie“. Als Ursache wird vermutet, dass das Ungeborene in der Enge der Gebärmutter für längere Zeit eine Zwangshaltung einnehmen musste. Auch die Strapazen einer komplizierten Geburt können ein Grund sein. Kinderärzte und Physiotherapeuten sprechen von einem Schiefhals, wenn ein Kind seinen Kopf über längere Zeit hinweg nicht in der normalen Lage hält.
Einen Schiefhals beim Säugling nahmen die Kinderärzte früher häufig nicht besonders ernst. Zwar kann das Phänomen folgenschwere Erkrankungen als Ursache haben (siehe Kasten). Aber das ist nur äußerst selten der Fall. Die Erfahrung zeigt, dass die Haltungsprobleme der meisten Säuglinge nach ein paar Monaten von selbst verschwinden. Nur bei schweren Fehlhaltungen wurden die Kleinen früher zum Kinderorthopäden überwiesen und krankengymnastisch behandelt, um Verformungen der Knochen und Haltungsschäden vorzubeugen.
Heute ist das komplizierter. Denn seit ein paar Jahren entzweit ein Begriff die Experten: das „KiSS-Syndrom“. 1991 schrieb der Chirurg Heiner Biedermann einen Artikel über „Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung bei Kleinkindern“. In den folgenden Jahren verbreitete sich dieser Krankheitsbegriff als „KiSS-Syndrom“ in Deutschland. Biedermann zufolge wirken sich eine Fehllage im Mutterleib oder eine schwere Geburt vor allem auf den Hals des Kindes aus. In den ersten Lebenswochen entstehen so durch eine Fehlstellung der Kopfgelenke schmerzhafte „Blockaden“ im Nackenbereich. Um Schmerzen zu vermeiden, entwickelt der Säugling eine krankhafte Körperhaltung, sagen die Verfechter des KiSS-Syndroms. Schlafstörungen, Schreikrämpfe, Wachstumsstörungen und andere Symptome sollen die Folge sein.
Ärzte und Therapeuten, die das KiSS-Syndrom als Erkrankung anerkennen, sind zumeist Anhänger der Manualtherapie (Chirotherapie) oder der Osteopathie. Durch vorsichtige Berührungen und Handgriffe versuchen Osteopathen und Manualtherapeuten die Nackenblockaden aufzulösen. Bei der so genannten Atlastherapie zum Beispiel werden gezielte Druckimpulse auf den ersten Halswirbel gegeben. Die Wirksamkeit dieser Methoden konnte bisher wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Daher werden die Behandlungskosten von den gesetzlichen Krankenkassen nicht immer erstattet.
„Das KiSS-Syndrom ist eine Erfindung der Manualtherapeuten“, hält Privatdozent Dr. Ralf Stücker dagegen. Er ist Leiter der kinderorthopädischen Abteilung des Altonaer Kinderkrankenhauses. Seiner Erfahrung nach liegt das Grundproblem bei der Säuglingsasymmetrie nicht im Nackenbereich, und es hat auch nichts mit Blockaden zu tun. Seine Erklärung: Viele Babys entwickeln durch die meist konsequente Rückenlagerung eine einseitige Abflachung des Hinterkopfes. „Die Säuglinge haben nämlich schon bei Geburt eine Lieblingsseite, weil sie gerne die Körperhaltung einnehmen, die sie auch in der Gebärmutter einnehmen mussten“, sagt Stücker. Die dadurch eintretende Verformung des noch weichen Hinterkopfes nennen die Mediziner „Plagiozephalus“, wörtlich übersetzt heißt das „flacher Kopf“.
Bei einem ausgeprägten Plagiozephalus geraten die Kinder in Rückenlage immer wieder in dieselbe Körperhaltung. Durch die Drehung des Kopfs zu einer Seite wird zudem ein spezieller Reflex ausgelöst, der nur in den ersten Lebensmonaten auftritt. Dadurch nehmen die Kinder eine Haltung ein, die Ärzte bildhaft „Fechterstellung“ nennen: Auf der Gesichtsseite sind Arm und Bein gestreckt und auf der Hinterkopfseite gebeugt. Diese ungleich verteilte Muskelspannung führt zum Schiefhals und zur Asymmetrie. Beides tritt oft zwischen der zweiten und vierten Lebenswoche auf. In den meisten Fällen kommt es nach drei bis vier Monaten zu einer spontanen Besserung. Deshalb raten viele Ärzte in leichten Fällen zur Geduld. Eine Geduld, die besorgten Eltern allerdings oft schwerfällt. „Bei ausgeprägter Asymmetrie besteht jedoch Behandlungsbedarf“, so Stücker. „In der Regel ist dann neben einer krankengymnastischen Behandlung auch eine adäquate Lagerung der Kinder notwendig um den Hinterkopf zu entlasten.“
„Krankengymnastik allein kann die Blockaden nicht lösen“, widerspricht Dr. Siegbert Tempelhof. Er ist ärztlicher Leiter des Centrums für Komplementärmedizin in München, wo auch das KiSS-Syndrom behandelt wird. Manualtherapeuten und Osteopathen argumentieren, dass die Nackenmuskeln eng mit den Augen, den Ohren und mit Steuerungszentren der inneren Organe verbunden sind. Daher prüfen die Therapeuten auch bei vielen Allgemeinsymptomen des Kleinkindes, ob ein KiSS-Syndrom zugrunde liegt. Spätere Probleme wie Hyperaktivität oder Schulschwierigkeiten können ihrer Meinung nach von unbehandelten Blockaden der Wirbelsäule stammen. Bei Säuglingen reicht oft eine Behandlung. „Selten sind mehr als vier oder fünf Sitzungen notwendig“, meint Tempelhof.
Einig sind sich die Experten zumindest in einem Punkt: Säuglinge mit Symmetriestörungen sollten, wenn sie wach sind, nicht ausschließlich in der Rückenlage liegen. Gut ist, wenn sie von den Eltern häufiger umgelagert werden und Siel- und Reizangebote von beiden Seiten bekommen. So gewöhnt sich das Baby erst gar nicht daran, die Welt nur von einer Seite aus zu betrachten.
Der muskuläre Schiefhals (Torticollis) wird auch als „angeborener Schiefhals“ bezeichnet. Er kommt bei etwa 0,5 Prozent aller Neugeborenen vor. Es handelt sich um eine Fehlstellung des Kopfes zu einer Seite hin. Der Kopfwendermuskel, der vom Brustbein V-artig über den Hals zu den Ohren zieht, ist einseitig verkürzt. Schuld daran sind Umbauprozesse im Muskel.
Gut zu erkennen: Meist fällt der muskuläre Schiefhals gleich nach der Geburt auf, spätestens nach dem ersten Lebensmonat. Bei der Untersuchung tastet der Kinderarzt eine Verdickung am Muskel. Neben einer Fehllage des Kindes in der Gebärmutter werden auch genetische Ursachen vermutet. In 80 Prozent der Fälle reicht Krankengymnastik, um den erkrankten Muskel zu dehnen und die Schiefstellung aufzuheben. Ist das nicht möglich, so ist eine operative Verlängerung des verkürzten Muskels notwendig.
Sehr selten liegen dem kindlichen Schiefhals andere Ursachen zugrunde wie etwa Fehlbildungen der Halswirbel. In einem solchen Fall erstellt der Kinderorthopäde durch Röntgenuntersuchungen und Kernspintomographie eine genaue Diagnose. Je nach Einzelfall wird dann entweder zunächst abgewartet, wie sich das Wachstum des Kindes entwickelt oder die Fehlbildung wird gleich operativ korrigiert.
Auch Entzündungsherde oder Tumore im Kopf-Hals-Bereich können sich in äußerst seltenen Fällen zunächst durch einen Schiefhals bemerkbar machen. Bei Kleinkindern kann eine Schiefhaltung des Kopfes gelegentlich auch Ausdruck eines einseitig verminderten Hör- oder Sehvermögens sein.
Optische Reize bringen das Baby dazu, den Kopf auf die richtige Seite zu wenden.