Osteopathische Medizin
EHK 3/2001 Siegbert Tempelhof / Johannes R. Weingart
Zusammenfassung
Osteopathie ist eine manualmedizinische Methode, die der amerikanische Arzt Dr. Andrew Taylor Still (1828 – 1917) in Kirksville, Missouri, im Jahre 1874 begründete. Die osteopathische Philosophie versteht den Körper als Einheit, geht von Selbstheilungskräften aus und sieht eine gegenseitige Abhängigkeit von Struktur und Funktion. Osteopathen unterteilen den Körper in drei zusammengehörige anatomische Systeme: das parietale, viszerale und craniosakrale System. Therapeutisch steht die Beseitigung der osteopathischen Läsion und die Wiederherstellung eingeschränkter Beweglichkeit im Bereich des Skeletts, der Gelenke, der Muskulatur, der Organe, der faszialen, vasculären, lymphatischen und neuronalen Strukturen im Vordergrund.
Schlüsselwörter
Osteopathie, Manualmedizin, allopathische Medizin, Craniosakraltherapie, Viszeraltherapie, osteopathische Läsion, Dr. Andrew Taylor Still.
Einleitung
Auch wenn die Osteopathie in der letzten Zeit einen rapide ansteigenden Bekanntheitsgrad unter Ärzten und Patienten erlangt hat, gibt es immer noch viele, die mit dem Begriff wenig anfangen können. Die Wortschöpfung „Leiden der Knochen“ ist aus historischen Gegebenheiten erklärbar und hat nichts mit der renalen Osteopathie gemeinsam. Der Begriff Osteopathie beschreibt nicht nur eine manualmedizinische Methode, sondern umfasst eine eigene ganzheitliche Sichtweise, Gesundheit und Krankheit zu erklären. Neben den wissenschaftlichen Aspekten betonen Osteopathen philosophische Ansätze, die der Body-Mind-Medizin zuzuordnen sind. In den USA verfügen Osteopathen, die eine komplette schulmedizinische Ausbildung haben, über eigene osteopathische Universitäten und sind den herkömmlichen Medizinern (Allopathen) gleichgestellt. Die osteopathische Manualmedizin hat mit anderen Methoden, wie der Chirotherapie oder Chiropraktik, viele Gemeinsamkeiten, die allerdings auf parietale Techniken beschränkt sind. Diagnose und Therapie unterscheiden sich durch das viszerale und craniosakrale System teilweise erheblich von manualmedizinischen Vorgehensweisen, die im parietalen System angesiedelt sind.
Das parietale, viszerale und craniosakrale System
Die Osteopathie unterteilt drei Teilbereiche, die anatomische und funktionelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Die drei Systeme werden in Diagnostik und Therapie mit unterschiedlichen Schwerpunkten verwendet, sind aber innerhalb der osteopathischen Betrachtungsweise untrennbar miteinander verbunden. Die in Mode kommende Herauslösung des Craniosakralen Systems als eigenständige Therapie wird von Osteopathen sehr kritisch bewertet.
Parietales System
Das parietale System beschreibt vornehmlich das Stütz- und Haltesystem des Körpers mit Skelettsystem, Knochen, Gelenken, Sehnen, Bändern und Muskulatur sowie Fasziensystemen. Parietal arbeiten auch Chirotherapeuten, Chiropraktiker und Physiotherapeuten.
Viszerales System
Zum viszeralen System gehören die inneren Organe mit ihren Faszien und Anheftungen, die peritonealen, pleuralen und mediastinalen Faszienauskleidungen der großen Körperhöhlen und das dazugehörige vaskuläre, neuronale und lymphatische System. Weiterhin zählen dazu die weiblichen und männlichen Urogenitalorgane einschließlich des renalen Retroperitonealraumes. Der viszerale Rhythmus wird von Osteopathen als von anderen Rhythmen (Atmung, Pulsschlag, Peristaltik usw.) unabhängige Eigenschwingung viszeraler Organe mit einem Zyklus von 4-8 Schwingungen pro Minute beschrieben.
Craniosakrales System
Zum Craniosakralkomplex wird der Schädel, zentrales Nervensystem und Rückenmark mit ihren duralen Umhüllungen, der Liquor cerebrospinalis sowie das Sacrum. Der wichtige craniosacrale Rhythmus, auch primär respiratorischer Mechanismus genannt, bezeichnet die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis mit 6-12 Zyklen pro Minute, die inhärente Mobilität von Gehirn und Rückenmark, die Beweglichkeit der craniosakralen Membranen, die Beweglichkeit der Schädelknochen und die unwillkürliche Bewegung des Sakrums zwischen den Ilia.
Dr. Andrew Taylor Still
Der Begründer und vielzitierte Vater der Osteopathie ist der amerikanische Arzt Dr. Andrew Taylor Still (1828-1917). Sein Lebensweg lässt das osteopathische Konzept etwas plastischer erscheinen.
Geboren als Sohn eines Landarztes und Methodisten in Virginia, USA, kam er mit Patienten schon frühzeitig als Begleiter seines Vaters in Berührung. Der junge Andrew Taylor entwickelte schnell eine Faszination für Anatomie und nahm mit Begeisterung Dissektionen an Tieren, die auf der Jagd erlegt worden waren, vor.
Schon in jungen Jahren litt Andrew Taylor an heftigen Kopfschmerzattacken und konnte so am eigenen Leib den Leidensdruck von Patienten nachvollziehen. Er entwickelte eine wirksame Technik zur Schmerzreduzierung, indem er seinen Hinterkopf über ein abgesenktes Schaukelseil unter eine leichte Traktion setzte. Diese nachhaltige Erfahrung einer einfachen Körpertechnik hatte großen Einfluss auf die spätere Entwicklung der Still´schen Osteopathie. Still, schon frühzeitig entschlossen den Weg eines Arztes zu gehen, erwarb seine medizinischen Fähigkeiten, wie in der damaligen Zeit üblich, durch Beobachtung anderer Ärzte (hauptsächlich seines Vaters), durch Selbsstudium und Kurse an der medizinischen Universität von Kansas City. Später wurde ihm der Grad MD (Medical Doctor) vom Staat Missouri verliehen. Neben seiner Tätigkeit als Arzt, die er im Staat Missouri begann und seine Familie nicht ernähren konnte, betrieb er erfolgreich eine eigene kleine Farm. Sein scharfer Verstand ließ ihn auch im Bereich des Landmaschinenbaus neue Konzepte entwickeln, auf die er mehrere Patente hielt.
Still musste neben wirtschaftlichen Katastrophen, ein Sturm zerstörte sein gesamtes Anwesen, auch persönliche Schicksalsschläge hinnehmen: Während einer Meningitis-Epidemie stand er dem Ton von drei seiner Kinder hilflos gegenüber. Bei Erkrankungen seines Vaters und seines Bruders stieß er immer mehr an die Grenzen der damaligen Medizin, die mit Medikamenten wie Quecksilber, Laxantien, Rauschmitteln, übertriebenen Aderlässen und unsauberen chirurgischen Eingriffen oft mehr Schaden als Nutzen bewirkte.
Entwicklung der Osteopathie
Zunehmend unzufrieden mit der damaligen Medizin und regelrecht angewidert von den vorherrschenden Therapieprinzipien entwickelte Still über Jahre eine Therapie, die auf der Grundlage körpereigener Heilungsmöglichkeiten beruhte und nur den Einsatz seiner Hände erforderte. Die Körper-Geist-Seele-Beziehung sollte in Diagnostik und Therapie hinreichend gewürdigt werden. Als religiöser Mensch war er davon überzeugt, dass Gott den Körper mit Selbstheilungskräften ausgestattet hat, die man nur aktivieren muss („nature at will, can and does produce solvents, necessary to melt down deposits of fiber, bone, or any fluid or solid found in the human body“). Durch seine profunden anatomischen Kenntnisse, die er sich durch Sezierung von Leichen und durch die Arbeit als Chirurg im Bürgerkrieg erworben hatte, gelangte er zu der Überzeugung, dass das muskuloskelettale System mit seinen vasculären Beziehungen den Schlüssel zur Auslösung von Heilprozessen darstellt. Folgende Äußerungen von Still unterstreichen das:
„Disease is the result of anatomical abnormalities followed by physiological discord…
It appears perfectly reasonable to any person above the condition of an idiot, who has familiarized himself with anatomy and is working with the machinery of life, that all diseases are mere effects, the cause being a partial or complete failure of the nerves to properly conduct the fluids of life…
When all parts of the human body are in line we have perfect health. When they are not, the effect is disease. When the parts are readjusted disease gives place to health.”
Eines seiner berühmtesten Zitate lautet: “Gesundheit zu finden sollte das Ziel eines Arztes sein, Krankheit kann jeder finden.” Krankheit konnte in seinen Augen leicht festgestellt werden. Vordringliches Ziel eines Osteopathen jedoch sollte es sein, die Stelle im Körper aufzusuchen, an welcher der Weg der Gesundheit verlassen wurde. Erst dann könnten die vom Körper gelenkten Heilprozesse ausgelöst werden.